Workshopbericht:

Szenische Rauminstallationen

an Alltagsorten

Liz Rech

Ich kann jeden leeren Raum nehmen
und ihn eine nackte Bühne nennen.
Ein Mann geht durch den Raum,
wärend ihm ein anderer zusieht;
das ist alles,
was zur Theaterhandlung notwendig ist.

Peter Brook, Der leere Raum, Berlin 1997

Die inhaltliche Ausrichtung des Workshops

Der mathematische Raum, der üblicherweise in ein orthogonales Achsensystem (X-,Y-,Z-Achse) gegliedert ist, erstreckt sich in alle Richtungen in die Unendlichkeit. In ihm kann man jeden beliebigen Punkt im Raum zum Koordinaten-Mittelpunkt machen. Dagegen spielt im theatralen System häufig der „erlebte Raum“ (E. Minkowski) eine entscheidende Rolle; in ihm gibt es einen Mittelpunkt, der durch den Ort des erlebenden Menschen im Raum gegeben ist. Dieser erlebte Raum muss aber schon längst nicht mehr immer die Guckkastenbühne sein - Theater an anderen Orten ist im besten Fall innovativ, progressiv und zeitgenössisch. Hier gibt es Raum für Ausstellung, Inszenierung, Interaktion, Veränderung und Alltagsforschung.

Der Raum im Theater ist, neben dem Körper, einer der Schwerpunkte, mit denen wir uns in diesem Workshop beschäftigt haben: Mithilfe von performativen und choreographischen Verfahren wurde der Raum erkundet und erforscht, wie er sich durch die Ansammlung von Objekten und Körpern verändert. Dabei ist der Raum der Ausgangs- und Inspirationspunkt der Theaterarbeit und nicht ein geschriebener Text.

Folgende Fragen spielten dabei eine wichtige Rolle:

  • Wie entstehen Beziehungen im Raum?
  • Wie kann man einen bestimmten architektonischen Raum jenseits der Guckkastenbühne optimal nutzen?
  • Wie lässt man sich wirklich ein auf die besonderen Herausforderungen, vor die einen der jeweilige Ort stellt?

Am Ende wurden eigene Konzepte für unterschiedliche Räume entwickelt und erprobt.

Ziel des Workshops war es, das unendliche Potential von Räumen jenseits der Bühne konkret erfahrbar zu machen und den Teilnehmer*innen Mut zu machen, performative und choreographische Verfahren in schulischen Räumen auszuprobieren. Ich selbst arbeite als Regisseurin seit Jahren im Grenzbereich zwischen Performance, Schauspiel und Installation und bin immer inspiriert von Alltagsorten und deren Atmosphären.

Perspektive durch das Rolltor im Rahmen der Inszenierung „Mickey La Torche" von Natascha de Pontcharra in einer ehemaligen Verlagshalle / Flächenbrand-Festival Kiel 2005 (Regie: Liz Rech)

Einstiegsphase des Workshops

Als Vorbereitung auf die szenische Arbeit wird ein Warm-Up mit Fokus auf den Raum durchgeführt. Ausgehend vom klassischen Raumlauf (freies Begehen des Raumes) werden drei Aspekte nacheinander thematisiert: Die räumliche Beziehung zu den anderen Performern im Raum, die konkrete Architektur des Raumes und die individuelle Raumwahrnehmung jedes einzelnen.

Der Ablauf des Raumlaufes wird von einer Regel strukturiert: Am Anfang wird von mir folgendes angekündigt: „Ich werde zwischendurch klatschen - bitte bleibt dann alle sofort stehen und schließt die Augen. Ich werde euch dann Dinge fragen oder eine Handlungsanweisung geben.“

Die räumliche Beziehung zu anderen Performern:

Im ersten Abschnitt wird die Aufmerksamkeit der Teilnehmer*innen auf die räumlichen Beziehungen zu den anderen Performern im Raum geschärft und versucht, eine 360° Wahrnehmung zu erreichen. Nach einem Klatschen bitte ich die mit geschlossenen Augen verteilt im Raum stehenden Teilnehmer*innen beide Arme in Richtung der ihnen am nächsten stehenden Personen auszustrecken und deren Namen zu sagen. Dann bitte ich sie die Arme so zu halten, aber nun die Augen zu öffnen und sich umzusehen, um zu überprüfen, ob die Richtung stimmt und ob sie wirklich auf die ihnen am nächsten stehenden Teilnehmer*innen gezeigt haben (oft werden die hinter oder seitlich der Person stehenden Menschen übersehen). Die Teilnehmer*innen fangen wieder an zu laufen. Nach erneuter Ansage und Klatschen strecken die Teilnehmer*innen mit geschlossenen Augen beide Arme in Richtung der ihnen am nächsten stehenden Person aus und benennen die Distanz zu ihr („75 cm, 1 Meter etc.“).

Die konkrete Architektur des Raumes:

Im zweiten Abschnitt wird die konkrete Architektur des Raumes thematisiert. Ich bitte die Teilnehmer*innen nun ihre Aufmerksamkeit von den anderen Personen hin auf den Raum zu richten und sich jedes Detail einzuprägen. Nach einem Klatschen stelle ich den mit geschlossenen Augen verteilt im Raum stehenden Teilnehmer*innen Fragen wie: „Wie viele Flaschen stehen auf dem Tisch?“ o.ä. Die Teilnehmer*innen antworten mit geschlossenen Augen (häufig sehr abweichend, es wird meist viel gelacht). Dann bitte ich sie die Augen zu öffnen, um zu überprüfen, ob sie richtig liegen. Auf diese Weise stelle ich mehrere Fragen zu konkreten Details im Raum. Die Teilnehmer*innen beobachten nun den Raum viel akribischer, weil niemand weiß, worauf es als nächstes ankommt - z.B.: „Wieviele Heizkörper befinden sich in diesem Raum?“ Nach einiger Zeit öffne ich die Struktur, indem ich die Teilnehmer*innen auffordere, selbst zu klatschen und Fragen zu stellen. (Diese Übung eignet sich auch sehr gut, um scheinbar bekannte Räume neu zu entdecken.)

Die individuelle Raumwahrnehmung:

Im dritten Abschnitt wird die individuelle Raumwahrnehmung jedes einzelnen thematisiert. Dazu bitte ich die Teilnehmer*innen einen „Wohlfühlort“ im Raum aufsuchen, also einen Ort im Raum, den sie mögen, an dem sie sich gut fühlen. Anschließend bitte ich alle, sich die gewählten Positionen und Körperhaltungen der anderen genau anzusehen und befrage einzelne Teilnehmer*innen, warum sie gerade diesen Ort gewählt haben (auf dem Fensterbrett, neben der Tür, unter einem Tisch, an der Rampe, mitten auf der Bühne …). In einem zweiten Schritt bitte ich die Teilnehmer*innen einen Ort im Raum aufsuchen, an dem sie sich nicht wohlfühlen. Auch diesmal wird gefragt, warum sie gerade diesen Ort gewählt haben. Die Gruppe erfährt dadurch nicht nur, wie individuell Raumempfinden ist (teilweise stehen Personen nun an den Orten, die andere davor als Wohlfühlorte gewählt hatten), sondern auch, dass es Orte gibt, die sich für viele unangenehm anfühlen, z.B. neben dem Mülleimer, in einer unaufgeräumten Ecke etc. In einer kurzen theoretischen Reflexion erläutere ich, dass ich vor jeder Produktion mit meinem Team den Raum auf diese Weise „scanne“, damit jeder weiß, wo seine Wohlfühlorte sind. Ich bezeichne diese auch als Kraftorte, zu denen man gehen kann, wenn man zum Beispiel eine Idee präsentieren will oder einfach, wenn man sich gerade in einer Probensituation nicht wohlfühlt. Es ist für einen Schauspieler wichtig, sich selbst und seine Beziehung im Raum zu kennen.

Wenn jemand an einem Ort, an dem er sich nicht wohlfühlt, einen Monolog halten muss, wird man das dem Körper ansehen und ein Teil der Aufmerksamkeit des Schauspielers wird sich unbewusst damit beschäftigen. Dadurch kann Präsenz verloren gehen. Das heißt nicht, dass man diesen Ort nicht trotzdem wählen kann, aber man muss sich dessen bewusst sein, um produktiv daran arbeiten zu können.

Die methodische Schwerpunkt der einzelnen Übungen des Workshops

Im Folgenden werde ich die verschiedenen Schwerpunkte der szenischen Arbeit innerhalb des Workshops kurz beschreiben und beispielhaft einzelne Übungen ausführlicher skizzieren.

Vorübung mit Objekten: Beziehungen zwischen nicht-menschlichen Akteuren im Raum

Ich bitte die Teilnehmer*innen, ein bis zwei zufällig ausgewählte Gegenstände aus ihrem Besitz an die Kante eines bereits mit Tape am Boden abgeklebten Viereckes zu legen. Nach und nach werden die Objekte nun von den Teilnehmer*innen nach dem Zug-um-Zug-Prinzip intuitiv in das Viereck gestellt bzw. gelegt. Es können in einem „Zug“ auch Objekte umgestellt, manipuliert oder wieder entfernt werden. Durch die räumliche Platzierung und die Beziehung der Objekte untereinander entwickeln sich sofort Geschichten. Im Gespräch werden grundsätzliche Gestaltungsprinzipien (wie beispielsweise die Arbeit mit Diagonalen, Vorderbühne und Hinterbühne, dem Goldenen Schnitt, Farbkorrespondenzen etc.) deutlich. Die Übung lässt sich übrigens in einem zweiten Schritt auch noch erweitern, indem auch menschliche Akteure sich in einer Art Tableau Vivant in das Viereck hineinbegeben.

Beziehungen im Raum zwischen Darsteller*innen: „Find an interesting spacial relationship!"

Diese Übung beschäftigt sich damit, welche Inhalte durch die Positionen und Körperhaltung von Darsteller*innen im (Bühnen-) Raum erzählt werden.

Dazu wird an das Prinzip des Raumlaufes angeknüpft.

Die Gruppe wird diesmal geteilt, die eine Hälfte schaut zu, während die andere Hälfte performt. Ich erläutere, dass in dem Moment, wo ich klatsche und sage: „Find an interesting spacial relationship!“, sich jeder intuitiv und ohne lange nachzudenken eine Position und Körperhaltung im Raum suchen soll (kleine Korrekturen sind nach dem Klatschen noch erlaubt).

Nachdem ich die Gruppe, die auf der Bühne umhergeht, gebeten habe, aufmerksam auf den Raum und in Kontakt mit den anderen Performer*innen zu sein, klatsche ich das erste Mal: „Find an interesting spacial relationship!“. Sie formieren Beziehungen und gehen dann in ein Freeze. Ich bitte das Publikum zu beschreiben, was sie sehen, welche „Geschichte“ erzählt wird, welche inhaltliche Dimension die Anordnung der Körper im Raum beinhaltet und welche Statusverhältnisse bestehen. Das Publikum formuliert Beobachtungen und Assoziationen und beschreibt „Bühnenbeziehungsbilder“. Die Zuschauer*innen können die Situationen auf der Bühne verändern. Wir besprechen gemeinsam die Veränderungen; manchmal dienen sie dazu, die szenische Situation noch zu schärfen, manchmal verunklaren sie aber auch die Situation, sodass man merkt, dass die ursprüngliche Konstellation doch stärker war. Schon kleine Veränderungen verändern das Setting und die Beziehungen.

Ich bitte die Performer*innengruppe wieder loszulaufen, diesmal jedoch auch die verschiedenen Dimensionen der Bühne (vorne, hinten etc.) und die unterschiedlichen Körperebenen (liegend, sitzend, stehend) verstärkt im Blick zu haben und klatsche erneut, nun entsteht ein zweites „Tableau vivant“. Das Publikum formuliert jetzt seine Beobachtungen mit Blick auf die Raumnutzung meist schon differenzierter. Insgesamt gibt es pro Gruppe drei Durchgänge. Danach wird gewechselt, sodass alle die Chance haben, von außen zu gucken.

Die Übung gibt den Performer*innen die Möglichkeit, intuitiv zu agieren, und ist angelehnt an die Übung „Spatial relationship“ der Viewpointtechnik.

Ziel der Übung ist es, zu begreifen, wie schnell die Zuschauer *innen - jenseits von einer existierenden Geschichte oder des gesprochenen Textes – eine szenische Situation über die Positionen der Körper im Raum zu „lesen“ und darüber Figuren zu konstruieren. Entscheidende Parameter sind die Distanz der Personen, ihre Körperhaltungen, ihre Blickrichtungen, ihre Positionen im Raum. Deswegen ist es so wichtig damit präzise zu arbeiten. Die Übung ist aber nicht nur für die performative Arbeit geeignet, sondern eignet sich auch hervorragend, um in der ersten Phase innerhalb eines klassischen Projektes mit einem dramatischen Text auf die Suche nach körperlichen Situationen zu gehen, die mit dem Stoff resonieren. Die „Tableau Vivants“ können Ausgangspunkt für die szenische Arbeit werden, indem man das einzelne Bild als einen Moment innerhalb einer szenischen Situation begreift.

Choreographische Übung in Kleingruppen à 5-6 Personen: „Architecture"

Nach einer kurzen Einführung in die Übung „Architecture“ von Ann Bogart und die Einteilung in Untergruppen bitte ich die Teilnehmer*innen mit wachen Augen durch den Raum zu gehen und sich zwei architektonische Details auszusuchen, durch den eigenen Körper zu „verstärken“ und zu thematisieren (das kann eine Referenz durch eine Körperhaltung oder Geste, eine Illustration, eine symbolische Übersetzung oder die Bespielung durch eine Aktion sein).

In der zweiten Arbeitsphase finden sich die Teilnehmer*innen in ihren jeweiligen Untergruppen zusammen. Die Teilnehmer*innen bringen sich nun ihre zwei gefundenen Gesten/Aktionen/Körperhaltungen gegenseitig bei und haben als Kleingruppe die Aufgabe, das gesamte choreographische Material in eine szenische Reihenfolge zu bringen ( bei einer Untergruppe aus 5 Personen gibt es also 10 choreographische Elemente, die in einen szenischen Ablauf integriert werden müssen).

Wichtig dabei sind folgende Fragen, die die Gruppen für sich alleine lösen müssen und die ich vorab als Anregungen hineingebe: Wie platziert man sich als Gruppe im Raum (wie kommt man von A nach B)? In welcher Formation agiert man als Gruppe in den unterschiedlichen szenischen Momenten (Reihe, Diagonale, lose Verteilung im Raum, Viereck- oder Kreisformationen, mit dem Rücken zum Publikum oder im Profil, etc.)? In welchem Modus und in welchen Tempi finden die Raumwege und die Aktionen statt (kriechend, rennend, langsam, schnell etc.). So erarbeitet jede Untergruppe in einer halben Stunde eine eigene Choreografie. Ich lasse zu diesem Zeitpunkt bereits leise im Hintergrund eine reduzierte elektronische Musik laufen, auf die die Choreografie hinterher performt werden soll. Die Übung hat den Vorteil, dass jeder seine Ideen und sein eigenes choreographische Material einbringt und damit eine kollektive Autorschaft entstehen kann.

In einer dritten Phase werden die Choreografien von den Untergruppen präsentiert. Ich bitte dabei die anderen Gruppen sehr aktiv darauf zu achten, wie die Gruppe den Raum und die Architektur nutzt.

Im Anschluss daran folgt ein kurzes Auswertungsgespräch in der gesamten Gruppe, in der die Teilnehmer*innen ihre Beobachtungen teilen, Fragen gestellt werden und wichtige Kompositionsprinzipien festgehalten werden können.

Fantasie im Raum entwickeln: einen Spielort finden

Auch scheinbar unspektakuläre Durchgangssituationen bieten häufig interessante Blickwinkel und vielfältige Auftrittsmöglichkeiten

Jede/r Teilnehmer*in begibt sich mit einer Partner*in auf die Suche nach einem im oder außerhalb des Gebäudes liegenden „interessanten“ Spielort, dessen Grenzen sie mit einem schmalen Kreppband abkleben und so als Spielort definieren. Aufgabe ist es, den Ort entweder mit einer kurzen Aktion oder einem „Tableau vivant“ zu bespielen oder eine szenische Fantasie zu beschreiben („Hier hält Hamlet seinen berühmten Totenkopf-Monolog“ oder „An diesem Ort könnte dieses oder jenes passieren“). Vorgabe für diese szenische Aktion sind ca. zwei Minuten (die Arbeitszeit beträgt 45 min). Am Ende präsentiert jede/r seinen Spielort und bespielt ihn (z. B. Aufzug, Raum mit Topfpflanze, Wendeltreppe, die Toiletten …). Aufgabe ist es also, sich gemeinsam für einen Arbeits- und Spielort zu entscheiden, dort eine zweiminütige körperbetonte Situation / Choreographie zu erschaffen und vorab zu bedenken, wo das Publikum sich aufhalten soll (Sichtlinien beachten). Dadurch dass die Aufgabe in einer sehr kleinen Konstellation bearbeitet wird, kann jede/r seiner Fantasie folgen und muss dies nicht in einer großen Gruppe ausdiskutieren. In einem anschließenden Rundgang sehen sich die Teilnehmer*innen im Rahmen eines internen Showings die einzelnen Mini-Performances an. In einer Auswertungsrunde erfolgt ein gemeinsamer Rückblick auf die „Raumminiaturen“ des Rundgangs. Es erfolgt ein ausführliches Feedback an jede Gruppe, bei dem der Schwerpunkt auf die Stärken und Verbesserungsmöglichkeiten gelegt werden und Kritik immer wertschätzend erfolgen sollte. Methodisch soll das unterschiedliche Potential der Spielorte - was Atmosphären, mögliche Auf- und Abtrittsmöglichkeiten, Raumwege und akkustische Voraussetzungen angeht - deutlich werden und eine gemeinsame Reflexion über den Unterschied zwischen einer Aktion und einer gespielten Szene erfolgen. In dem Auswertungsgespräch sollte auch darüber gesprochen werden, welchen Einfluss das Publikum und dessen Positionierung auf die Spielsituationen und die Atmosphären der Räume hatte.

Literaturangaben und Links


Literaturhinweise und Links zum Thema Mensch und Raum allgemein
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