Rheinland-Pfalz

Michael Aust und Michael Schwinning

Alice im Anderland

Eigenproduktion frei nach Lewis Caroll / Stefan Altherr

Geschwister-Scholl-Gymnasium Daun

Theater AG

Spielleitung: Tanja Finnemann, Volker Weinzheimer

LISA, 60 Min.

Diktatur - oder einfach nur verrückt?

Das Stück umgibt den Zuschauer, da rechnet er noch gar nicht damit: Man muss in den achten Stock, nimmt den Lift und kaum öffnet sich die automatische Tür, ist man schon mittendrin in der Alice-Welt. Was so märchenhaft klingt, war die Empfangsidee der Spieler*innen aus Rheinland-Pfalz, um dem Zuschauer deutlich zu machen, du bist mit im Spiel, schlimmer noch, du bist in einer Nervenheilanstalt. So verwandelt sich die Eintrittskarte in einen Gesundheitspass, die Einlasser*innen sind mimen Ärzt*innen oder Pfleger*innen und da räkelt sich irgendwo ein Menschenhaufen auf dem Boden oder ein weiß gewandeter Spieler schreitet gewichtig in den Zuschauerreihen umher, wieder andere besetzen einzeln die Bühne, bis zuletzt alle dort versammelt sind. Eine unwirkliche Atmosphäre macht sich breit zwischen den ganz in weiß Gekleideten und dem Publikum.

Klare Hierarchien herrschen

Aber mit dem Beginn des eigentlichen Stückes ist die Bedrohung vorbei, alles, was dann folgt, bleibt im Bühnenraum oder knapp darum herum. Die vierte Wand bleibt geschlossen. Die Bühne selbst ist ein aus Podien tribünenhaft gestufter Raum, auf dessen Absätzen jeweils hockerartige Quader als Requisiten stehen, die zu unterschiedlichen Konstellationen verschoben und gehoben werden können. So entstehen Begrenzungen oder Sitzmöglichkeiten, etwa im Sinne eines Kranken- oder Besprechungszimmers, wie sie zur Einrichtung einer Nervenheilanstalt gehören. Die Bühne übernimmt zudem die Funktion, die Rollen in ihrer Bedeutung zu staffeln, die wichtigeren oben, die unwichtigeren unten. Am Beispiel der Herzkönigin, der Chefin dieser Anstalt gezeigt: Diese ist zwar auf der ganzen Bühne unterwegs, aber im Wesentlichen dominiert sie das Geschehen von der obersten Ebene. Abgestuft aufgestellt werden dementsprechend die Bediensteten bei den Konferenzen des Pflegepersonals. Die Patienten erreichen praktisch nie die oberen Spielräume.

Erzählt wird so in groben Zügen die Geschichte von Alice aus dem Wunderland als Farce in der Anstalt und Metapher der Diktatur. Im Spiel ist das bekannte Personal, wie die Raupe, der verrückte Hase, das paranoide Kaninchen, die Grinsekatze, der Herzbube als Assistent der Königin und natürlich Alice. Auf der Szene bewegen sich die geschmackvoll differenziert und stilisiert in Weiß kostümierten und geschminkten Figuren mit Tics und Tocs, verrückten Accessoires und übertriebener Sprache. Die Irrealität der Figuren ist damit gesetzt.

Herrschaft um jeden Preis

Die Rote Königin ist gewillt, in diesem Rahmen die Herrschaft zu halten und diese, wenn notwendig, mit allen Mitteln einer Diktatorin zu verteidigen, anfangs subtil, später ganz offen. Denn wie im richtigen, sprich politischen Leben agiert sie nicht selbst, sondern der ihr treu ergebene Herzbube erledigt das Notwendige. Das Opfer, an dem die offene Brutalität gezeigt wird, ist das ängstliche Kaninchen, bis es am Ende getötet wird.

Alice profiliert sich in diesem System zunehmend als Widerstandskämpferin. Sie ist die einzige, die der Herzkönigin Paroli bieten kann, wie sie nach einem gewonnenen Schachspiel glaubt. Aber da ist sie auf eine Täuschung hereingefallen.

Um die gezeigten Verrücktheiten zu erden, was bei einem Märchen und nicht an der Realität ausgerichteten Stoff nicht zwingend notwendig wäre, gibt es immer wieder Einschübe in Form einer Art Personalkonferenz. Hier wird der Zuschauer über bekannte Geisteskrankheiten oder mögliche Therapieformen informiert bzw. kann über die Frage nachdenken, wer eigentlich wirklich verrückt oder wer normal ist.

Als Mittel, wohl um die unwirkliche Atmosphäre zu verdichten, werden über die Spielfläche immer wieder abstrakte Videos projiziert, die das Sehen des Zuschauers irritieren. Die Gewänder der Figuren reflektieren davon immer nur Teile des Gesamtbildes, was als Hinweis auf die zerbrochene Realität, die in den Köpfen der Figuren herrscht, gelesen werden kann. Der Zuschauer bekommt so einen direkten Anteil an der Verwirrung.

Die von der Gruppe aufgegriffenen Krankheitsbilder orientierten sich durchaus an der Realität: Genussvoll Joints rauchen oder paranoid sein, wie der Hase, der Kriegserfahrungen nicht verarbeiten kann oder die Tablettenabhängigkeit bei Alice, die in Folge dessen als Mörderin ihrer Eltern gekennzeichnet wird. Durch die Übertreibungen im Spiel aber wird diese Realität wirkungsvoll gebrochen. Die Irrealität der Alice-Geschichte wird so in der Inszenierung eingefangen.

Die Gruppe aus Daun hat die Fähigkeit, sich auf das Verrückte ernsthaft einzulassen. Sie spielt die Situationen in Texten, Maske, Kostüme, Licht und Video intensiv aus. Mag manches im Spiel auch aufgesetzt oder manieriert wirken, das Verrückte bleibt so stets gegenwärtig.

format_list_numbered