Projektbericht

Mecklenburg-Vorpommern:

Moby Dick

oder

Die Qual des Wals

Christian Holm

Nach dem Roman von Herman Melville

Montessorischule Greifswald

Mecklenburg-Vorpommern

Klasse 9

Mitwirkende:

10 Schülerinnen und 6 Schüler

Stücktext und Spielleitung: Christian Holm

„Also, ihr Menschen

Die Natur ist immer stärker als ihr

Überlegt gut, mit wem ihr euch anlegt

Denn wenn die Natur zurückschlägt

Sieht der Mensch alt aus.“

Der Rahmen oder Willkommen im Paradies

In strukturschwachen Regionen (wie hier im Kreis Vorpommern-Greifswald) hängt viel vom Engagement einzelner Personen ab, insofern sei zuvorderst Nils Kleemann als Gründer und Rektor der Montessorischule Greifswald genannt, ohne den die Schultheaterszene in Greifswald nicht dieselbe wäre. Solange es an der Montessorischule noch keine Oberstufe gab, fanden die von ihm im Alleingang initiierten Theaterprojekte von 2009 bis 2016 jährlich im Rahmen einer Kooperation am benachbarten (staatlichen) Humboldt-Gymnasium mit den sogenannten R-Klassen statt, seit 2017 an der Montessorischule selbst. Als Besonderheiten dieses Theaterprojektes sind u.a. zu nennen:

Der Jahrgang der 9. Klasse diskutiert über die Teilnahme und stimmt dann über das Theaterprojekt ab. Es gab noch nie mehr als 2 Gegenstimmen.
Die Eltern spenden ab der 7. Klasse monatlich Geld, aus dem das Projekt finanziert wird. Dies wird den finanziellen Möglichkeiten der Familien angepasst.
Eine Kooperation mit dem Theater Vorpommern wurde erreicht, so dass auf der großen Bühne des Hauses vor über 400 Zuschauer*innen gespielt werden kann. Der Kostümfundus des Hauses darf genutzt werden und es gibt professionelle Betreuung durch die technischen Gewerke.
Die jährliche Klassenfahrt wird zur Theaterfahrt. Man fährt dazu mitten hinein in die pommersche Einöde, dorthin, wo man den ganzen Tag nichts anderes tun kann, als Theaterspiele zu machen.
Vier Wochen vor der Premiere genießen die Schüler*innen Notenstopp und sind für ganztägige Proben vom Unterricht befreit.

Bevor nun manchen Leser*innen die Luft wegbleibt auf Grund der paradiesischen Zustände in der vorpommerschen Provinz – diese waren beim Theaterprojekt 2018/19 leider nur eingeschränkt zu genießen.

Durch den Bau des neuen Oberstufengebäudes an der Schule, der zu Probenbeginn noch in vollem Gange war, waren die räumlichen, zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten begrenzt Die Endproben mitsamt Unterrichtsbefreiung war nur für den Zeitraum von 9 Tagen direkt vor Weihnachten möglich, so dass vermehrt an der Wochenenden und sogar in den Weihnachtsferien geprobt wurde.

Da im Gegensatz zum Humboldt-Gymnasium die Eltern an der Montessorischule ohnehin ein monatliches Schulgeld entrichten, erfährt der Spendenwille für zusätzliche Projekte eine nachvollziehbare Beschränkung. Die Montessorischule Greifswald ist keineswegs eine Schule ausschließlich für Kinder betuchter Eltern, sondern beherbergt alle sozialen Schichten, so dass die Theaterfahrt leider 2018/19 nicht finanziert werden konnte.

Wegen der Größe des Klassenverbandes nahm zum ersten Mal nicht der gesamte 9. Jahrgang am Theaterprojekt teil, sondern es wurden drei Kreativprojekte angeboten.16 Schüler*innen wollten Theater spielen, zehn Mädchen und sechs Jungen.

Die Gruppe

Das Thema oder Der Osteewal

Ich schlage für Theaterprojekte gerne Themen und Stoffe vor, die mich als Spielleiter selber reizen. Wenn es sich, wie in diesem Fall, um einen historischen Stoff handelt, besteht der besondere Spaß darin, gemeinsam mit den Jugendlichen nach spielerischen und gerne auch komödiantischen Möglichkeiten zu suchen, den alten Plot in unsere heutige Zeit zu übertragen. Die Jugendlichen bringen großartige Fähigkeiten mit, Ideen ins Absurde zu treiben und sich über gesellschaftliche und soziale Gegebenheiten lustig zu machen. Das ist eine Haltung, die im oftmals ernsten und moralisierenden Jugendtheater eher selten eine Rolle spielen darf.

„Moby Dick“ als maritime Abenteuergeschichte sprach die Schüler*innen spontan an, allerdings bezogen sie zu dem düsteren Plot klar Stellung: Niemand dürfe in ihrem Theaterstück sterben, weder ein Mensch noch der weiße Wal. Da Moby Dick im Roman ja ohnehin nicht erlegt werden kann, bot es sich an, den weißen Wal als Symbol für die übermächtige Natur zu nehmen, mit der man sich besser nicht anlegen sollte – in Zeiten des Klimawandels und zunehmender Naturkatastrophen weltweit ein passendes und brandaktuelles Sinnbild.

Eine weitere wichtige Idee wurde ebenso prompt benannt und letztendlich zum auslösenden Argument dafür, den Stoff gemeinsam anzugehen: An der Ostseeküste, nicht weit von Greifswald, war vor kurzer Zeit ein kleiner, verirrter Wal verendet, der zwei Kilo Plastikmüll im Bauch hatte, in China war etwa zur selben Zeit ein bedeutend größeres Exemplar gestrandet, weil es achtzig Plastiktüten verschluckt hatte. Das hätte auch Moby Dick sein können!

Das Meer im Jahr 2019, gefüllt mit Plastikmüll, dazu eine gewisse Lust auf Abenteuer, allerdings verknüpft mit der Tatsache, dass wir alle keine Ahnung von der Seefahrt hatten und eben dieses zum Thema machen wollten: harte Montessori-Schüler auf großer Fahrt! Damit hatten wir den Ausgangspunkt für unsere Geschichte gefunden: Die Ferien sind vorbei, ihr Luschen!

Die Arbeitsweise oder Die Ausstrahlung einer wahren Kapitänin

Ohne ein gutes Team kann kein gutes Theater entstehen, im gesamten Probenverlauf steht also das Trainieren der Teamfähigkeit immer im Mittelpunkt. Ziel ist auch, dass später im Stück alle einmal im Mittelpunkt stehen werden, die Geschichte wird also ebenfalls als Team erzählt.

Neben dem Grundlagentraining arbeiten die Teilnehmer*innen in Gruppen viel zum Thema, wobei der inhaltliche Rahmen zunächst weit gesteckt sein kann. Die Schüler*innen erkennen, was sich alles in einem Theaterstück unterbringen lässt, wenn man die Geschichte einfach als Material betrachtet, von dem ausgehend ein Stück Lebenswirklichkeit heutiger Jugendlicher beleuchtet werden soll. Daher sind die Blickwinkel der Schüler*innen auf das Thema so enorm wichtig, denn was weiß ein Spielleiter schon von der Lebenswelt eines/einer 15jährigen!

Es hat sich in unserer Arbeit bewährt, dass die endgültige Stück- und Textfassung Sache des Spielleiters ist. In der Arbeitsweise geht es darum, die Jugendlichen bei allen Theaterspielen und Gruppenaufgaben so genau wie möglich wahrzunehmen, ihre Stärken zu entdecken und dabei stets das Stück im Hinterkopf zu haben. Das wird ihnen dann später, so weit es geht, auf den Leib geschrieben. Die Verantwortung der Spielleitung ist es, den dramaturgischen Überblick zu behalten, die Ideen zu sortieren, und vor allem gut zu beobachten, um schlussendlich zu gewährleisten, dass alle auf der Bühne ihre persönliche Herausforderung finden.

Auf den Proben konfrontiere ich die Schüler*innen mit ersten szenischen Ansätzen, fordere aber auch immer wieder Texte über Fragebögen ein oder gebe Schreibaufträge. So gestalten die Schüler*innen das Stück mit.

Einbringen von Materialien und Texten der Schüler*innen: Die Geschichte vom Ostseewal und Ergebnisse des Schreibauftrags zum Thema „Heimweh“

Auch bei meinen Texten gilt grundsätzlich: Umformulieren erlaubt! Je beherzter die Teilnehmer*innen Änderungsvorschläge machen und je weniger man ihre Kritik persönlich nimmt, desto besser. Das gemeinsame Ziel ist die Premiere und auf dem Weg dorthin ist die Offenheit im Umgang miteinander ein guter Indikator für wachsendes Vertrauen.

Eine große Herausforderung war natürlich, den 800-Seiten-Roman von Herman Melville in 60 Minuten auf die Bühne zu bringen. Wie sich schnell herausstellte, würde eine sehr flexible Erzählweise beim Erzählen der Geschichte hilfreich sein, sprich: außer Kapitän Ahab und dem Schiffsjungen Ismael sollten keine weiteren Rollen aus dem Roman namentlich benannt werden, sondern alle als Team den Plot gemeinsam gestalten.

Starke Frauenfiguren sind auf der Bühne besonders wichtig. Es war schnell klar, dass es in unserem Stück „Steuerfrauen“ ebenso wie „Steuermänner“ geben und unser Käpt’n Ahab von einem Mädchen gespielt werden würde. Letzteres hat sich so ergeben, denn ausgerechnet unsere jüngste Spielerin war mit ihren 13 Jahren in der Lage, eine solch enorme Kraft und Präsenz auf der Bühne zu entfalten, dass die Rolle einer Kapitänin für sie ideal erschien. Natürlich kann der Ahab in seinem Verhalten eigentlich als der Inbegriff toxischer Männlichkeit gelten, und ihn mit einem Mädchen zu besetzen erscheint zumindest anfechtbar, aber solche Entscheidungen werden aus der Probenpraxis heraus getroffen und die zu erzählende Geschichte sollte immer eher der Gruppe angepasst werden als umgekehrt.

Aufgrund des Wunsches der Schüler*innen, dass niemand in unserem Stück zu Tode kommen darf, sowie ihrer festen Überzeugung, den Walen eher helfen zu wollen, anstatt sie zu erlegen, blieb der Ausgang des Stückes lange offen. Sollte es gar keinen Kampf mit dem Wal geben? Würde doch eine blutige Meuterei stattfinden müssen – oder das Ende vielleicht komplett offen bleiben?

Wir probierten schier endlos an einem harmonischen Schlussbild herum, in welchem alle Schüler*innen gemeinsam als großer Wal dem Horizont entgegenschwimmen sollten und dabei irgendwie (?) Wasser in die Luft pusten würden, aber obwohl die Probenversuche feuchtfröhlich waren, wollte sich ein stimmiges Theaterbild einfach nicht herstellen. Erst kurz vor knapp entstand über Recherchen der Spielleitung die Idee, den legendären Satz von Melvilles Bartleby „Ich möchte lieber nicht“ für eine friedliche Weigerung der Seeleute zu benutzen, den Kampf mit dem übermächtigen Wal zu verweigern. So ergab sich eine ungeahnte dramaturgische Verbindung zwischen Moby Dick und Bartleby, allerdings nicht vorab am Schreibtisch, sondern ebenfalls aus der Praxis heraus.

Exkurs: Queequeg oder nicht?

Aus heutiger Sicht äußerst problematisch im Roman Melvilles ist die Figur des Queequeg, des begnadeten Harpuniers, mit dem sich Ismael trotz seiner anfänglichen Vorbehalte anfreundet und der den hölzernen Sarg anfertigt, der nach dem Versenken des Schiffes durch Moby Dick Ismael als einzigem das Überleben sichert. Die Figur ist wichtig und spannend, jedoch: dem guten Willen Melvilles zum Trotz, hier die literarische Figur eines positiv besetzen „Wilden“ zu erschaffen, erscheint die Charakterisierung des Harpuniers mit ihrem kruden Exotismus extrem rassistisch und ist kaum auszuhalten. Wie geht man aber damit um, als weißer, privilegierter Spielleiter im Rahmen einer theaterpädagogischen Arbeit mit 16 weißen, privilegierten Jugendlichen im Jahr 2019 mit einer solchen Romanfigur konfrontiert zu werden?

Es wollte keine rechte Idee entstehen, wie der Queequeg zu interpretieren und ins Heute zu holen sei, ohne dabei in eines der vielen Fettnäpfchen zu treten, die plötzlich auf allen Seiten bereit zu stehen schienen, also wurde die Figur schlussendlich schweren Herzens, wie alle anderen Figuren außer dem Kapitän und dem Schiffsjungen ja auch, gestrichen. Im Nachhinein betrachtet hätte man zusätzliche Zeit investieren, zusätzliches Geld organisieren und Expert*innen zu einem Workshop einladen sollen, um anhand der Romanfigur unsere privaten Rassismen und Privilegien kennenzulernen und zu hinterfragen und mit auf die Greifswalder Bühne zu bringen. Es wäre mit Sicherheit ein anderer, vielleicht sogar zeitgemäßerer und weniger harmloser Theaterabend geworden. Rückblickend gesehen bin ich diesem Thema aus dem Weg gegangen.

Highlights und Probleme oder Die blöden Fischköppe

Als beispielhaft für Highlights will ich den Tanz anführen, der von zwei Schülerinnen allein choreographiert wurde. Die beiden Mädchen haben nicht nur eine überzeugende Choreographie geschaffen, sondern sich dabei auch sehr klug in den Charakter der Kapitänin Ahab und ihr Verhältnis zur Crew hineingedacht und das dann in eine tänzerische Form gebracht, die bei jeder Aufführung ein Höhepunkt des Stückes war.

Als Problem erwies sich das Plakat. Es wurde von der Greifswalder Künstlerin und Grafikerin Cindy Schmidt (swinx) gestaltet, stieß aber bei den Schüler*innen auf gar keine Gegenliebe. Das stellte sich leider erst heraus, als der Druckauftrag schon erteilt war – mein Fehler. Die Schüler*innen zeigten sich regelrecht schockiert darüber, wie ihre fotografischen Portraits als Köpfe von unterschiedlichen Walfischen verwendet worden waren, und bekundeten, es würde sie an Cyber-Mobbing erinnern. Wir führten darüber ein langes Gespräch, ich nahm ihre Bedenken natürlich ernst und bot an, ihnen die ursprünglichen Fotos, die dramaturgischen Texte, Logos etc. zur Verfügung zu stellen, um ihnen damit die Möglichkeit zu geben, ein neues, eigenes Plakat zu erstellen oder erstellen zu lassen. Einzige Bedingung war, dass sie selbst tätig werden müssen. Das Budget war verbraucht, aber einige Eltern erklärten sich sogar bereit, einen erneuten Druck zu bezahlen. Leider passierte von Seiten der Schüler*innen nichts weiter, so dass kurz vor Weihnachten das ursprüngliche Plakat doch für die Werbung verwendet wurde.

Aufgaben und Materialien

Um Material für das Stück (und, wenn es im Stück nicht unterzubringen ist, für das Programmheft) zu bekommen, sammele ich über Fragebögen regelmäßig Ideen und Texte der SchülerInnen ein, z.B.:

  • Schreibe eine persönliche Abschiedsnachricht, bevor du für drei Jahre in See stichst.
  • Wonach bekommst du Heimweh?
  • Wonach bist du auf der Jagd in deinem Leben?
  • Die Ruderer auf einem Walfänger werde traditionell beschimpft, damit sie schneller rudern. Schreibe passende Schimpfwörter auf!
  • Stelle dir vor, morgen wäre eventuell dein letzter Tag, weil der Kampf mit Moby Dick unmittelbar bevorsteht, was würdest du tun, wie würdest du dich verhalten?
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