Projektbericht

Schleswig-Holstein:

AnderLand

Simone Boles

Eigenproduktion in Kooperation mit dem Theater Lübeck

Grund- und Gemeinschaftsschule St. Jürgen, Lübeck

Schleswig-Holstein

Theater-AG FÄUSTlinge und Spielclub 4

Mitwirkende:

8 Schülerinnen und 5 Schüler

Spielleitung: Simone Boles und Knut Winkmann

Rahmen

Inspiriert von der Zentralen Arbeitstagung des BVTS im November 2017 mit dem Titel „Stop separating!" in Frankfurt a.M. entstand die Eigenproduktion „AnderLand": Ein Kooperationsprojekt zwischen der Theater AG „Die FÄUSTlinge" der Grund- und Gemeinschaftsschule St. Jürgen mit dem Spielclub 4 des Theaters Lübeck. Die Theaterlehrerin und der Theaterpädagoge übernahmen gemeinsam die Spielleitung: Vom Ankündigungstext und Kick-Off-Wochenende im Herbst 2018 über das Generieren von szenischem Material und Formulieren der Textfassung bis hin zu regelmäßig stattfindenden Dramaturgie- und Reflexionssitzungen der „Doppelspitze" und schließlich zur Endprobenphase und Premiere im April 2019. Die Probezeiten wurden stets von beiden Spielleitungen - Simone Boles und Knut Winkmann - gestaltet. Der zeitliche Rahmen sah wie folgt aus:

  • insgesamt drei Probewochenenden (Oktober/Januar/März)
  • wöchentliche Proben á 120 Minuten (mindestens, manchmal länger)
  • Endprobenwoche: Eine Woche vor der Premiere tägliche Proben, Aufführung in der letzten Woche vor den Osterferien, 3 Schultage komplett vom Unterricht ausgeplant, 2 Schultage ab 12 Uhr Unterricht nach Plan von der 1.-4. U-Stunde, dann Probe
  • 2 Aufführungstermine (4 wünschenswert, aus organisatorischen Gründen jedoch nicht machbar).

Der leere Raum als Impulsgeber

Weiße Körper im weißen Raum

Der Aufschlag für den dramaturgischen Kerngedanken wurde im Ausschreibungstext (siehe Download) gesetzt und im Inszenierungsprozess mit der Gruppe partizipativ weiterentwickelt.

Analoger und digitaler Raum

Schwerpunkt war letztendlich, das Nebeneinander, das Miteinander oder gar die Verschmelzung von analogen Räumen mit digitalen Räumen zu erforschen. Interessant war für uns die Grenzüberschreitung des „Black Mirror", das Zusammentreffen der Räume: Inwiefern unterscheidet sich der digitale vom analogen Raum? Inwiefern sorgen sie beide für eine Veränderung des jeweils anderen Raums und Raumgefühls?

Black Mirror - Element der Dramaturgiemappe

Da wir davon ausgehen, dass der Körper den Raum komplementiert, wollten wir unsere inneren und äußeren Raumerfahrungen sichtbar machen, nach außen kehren, spürbar machen. Der Körper wurde somit zum Mitspieler des Raums. Zentral beim Erproben von szenischem Material war immer der Körper. Szenisches Material wurde aus Text-Impulsen, Improvisationen, Interviews, Bildimpulsen, Bewegungsimpulsen und Alltagserfahrungen in der digitalen und analogen Welt generiert. Zentral war hierbei eine Dramaturgiemappe, in welcher die Gruppe im Laufe des Inszenierungsprozesses Material (Lieder, Zeitungsnachrichten, Reportagen, Druckgraphiken, Memes, Musik etc.) sammelte, das unseren dramaturgischen Kerngedanken berührte und das uns inspirierte (vgl. hierzu Download Elemente der Dramaturgiemappe). Somit hatten wir sogleich stets eine Fülle an möglicherweise für Gestaltungsaufgaben impulsgebendes Material.

John von Düffel: Klassenbuch - Element der Dramaturgiemappe

Proben

Ein Grund-Prinzip der Probens war das Halten eines hohen und dichten Energielevels (wenig sitzen, viel spielen), das passgenaue Zuschneiden der theatralen Gestaltungsaufgaben auf die jeweiligen Spieler*innen, das Dokumentieren von Probenergebnisen, Feedback und vor allem der Einbezug von Spielen, Gestaltungsaufgaben und Gesprächen, die einen direkten autobiographischen Bezug zur Raum-Erfahrungswelt der Schüler*innen besitzen.

Raumkonzept

Die Raumsituation an der Schule sah zu Beginn der Inszenierung wie folgt aus: Die Schule verfügt über eine kleine Turnhalle, ein ehemaliger Tanzraum mit einem weichen Boden, in dem wir Inszenieren wollten. Auf den ohnehin weichen Boden planten wir zu Beginn des Inszenierungsprozesses, einen weißen quadratischen Spielboden zu verlegen, vergleichbar mit dem „Black Mirror" sollte dies unser „White Mirror" werden, ein leerer, weißer Raum, der die Grenze der Welten markiert. Die kleine, längliche Turnhalle hat an einer Seite eine Sproßenwand, an einer Seite eine verschließbare Holzwand und an zwei Seiten Fensterfronten. Geplant war die Aufteilung von Spiel- und Zuschauerraum wie in der Skizze ersichtlich (vgl. Download Raumkonzept I). Geprobt wurde bis vier Wochen vor der Aufführung im Theaterraum, in dem letztendlich eine Fläche von 8 x 8 Metern markiert wurde, sodass die Raum-Bühnen-Grenze in das Körpergedächtnis gehen kann.

In der Leere des weißen Raums wollten wir einen analogen Raum aus unserem visuellen Gedächtnis heraus erschaffen, diesen Raum verbalisieren, um so im Mitspieler wiederum genau diese Bilder entstehen zu lassen. Während er in einem schwarzen, leeren Raum (d.h. mit verbundenen Augen) den Worten zuhört, wird er geführt, Abstände und Kanten kann er imaginär erfühlen. Letztendlich visualisiert der Mitspieler sein gerade entstandenes inneres Bild zeichnerisch und verbalisiert den Raum wiederum. Somit wird der Raum durch folgende Schritte erschaffen: 1. A: Raum visuell im Geist hervorrufen, 2. A: Raum verbalisieren und Spieler*in durch den Raum geleiten, 3. B: Geleitet werden, zuhören, Raum erfühlen, 4. B: Raum zeichnen, 5. B: Raum für alle verbalisieren (vgl. Aufgabe zum Transfer des Raums – Wahrnehmungskompetenz).

Aufgabe


Transfer des Raums (Wahrnehmungskompetenz)
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Die Leere des weißen Raums wollten wir auch innerlich erspüren. Wie fühlt es sich an, was passiert mit mir, wenn ich 30 Minuten im digitalen und im analogen Raum „off" bin? So stellten wir während des Probenwochenendes die Aufgabe, sich einen Platz zu suchen und 30 Minuten nichts zu tun. Wirklich gar nichts. Nach 30 Minuten mussten wir die Spieler*innen aus tiefsten Gedanken zurückholen. Alle erschienen irgendwie „weggetreten" oder „benebelt" und berichteten von sehr persönlichen Momenten der Ungeduld, des (Nicht-)Loslassenkönnens, des Genießens, des Beschäftigungswahns und des Träumens. Es war klar: Diese Aufgabe hat uns berührt, bewegt, etwas in uns ausgelöst, sodass wir dieses Berührtsein als „Message" in unserem Stück aufnehmen wollten: Wir suchten „Jetzt"-Momente. Später spielten diese Momente immer wieder eine Rolle während der Gruppen-Dramaturgie-Gesprächsrunden. Den Veränderungsprozess unserer Dramaturgie wird im Vergleich des Ankündigungstextes mit der Pressemitteilung deutlich (vgl. Download AnderLand Pressemitteilung).

Der digitale Raum als Impulsgeber

Der digitale Raum wurde von den Spieler*innen im Grunde genommen nahezu einstimmig als allgegenwärtige Taktung des Tagesablaufs im analogen Raum beschrieben. Deutlich wurde hier der Zusammenhang von Körper, Raum und Zeit als die drei grundlegenden Module der Theaterarbeit. Relativ zu Beginn des Probenprozesses diente der digitale Tagesablauf der Spieler*innen als dramaturgischer roter Faden. Was erleben und erspüren wir im Laufe eines Tages, wie fühlt sich die Zeit an? Wo vermischen sich die Räume?

Mithilfe eines Schreibauftrags (siehe Kasten) entstand Textmaterial zu diesen Fragestellungen, das wir gemeinsam neu komponierten und zu einem Text verschmelzen ließen. Denkbar ist hier, eine Soundcollage, ein Sound-Jam zu erstellen: Jeder bringt seinen Text facettenhaft ein, kann loopen, wiederholen, modulieren, mit Tempo, Rhythmus und Lautstärke gestalten. Die Session wird aufgenommen und kann später von allen gehört und gekürzt werden.

Aufgabe


Fixierung eines digitalen Tages
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Die theatrale Entscheidung, den Text von einer Spielerin am Mikro vortragen zu lassen, entstand in der letzten Phase der Inszenierung. Erprobt wurde, alle Spieler*innen in einen engen, imaginären Glaskasten zu stecken, was jedoch ebenso wie das chorische Sprechen im Laufe des Probenprozesses verworfen wurde. Der Text wird im Stück gleich zu Beginn (Digitaler Tagesablauf I) und in der Mitte (Digitaler Tagesablauf II) verwendet und dient somit als Verbindungselement innerhalb des Stücks. Die permanente digitale Präsenz strukturiert meinen ganzen Tag, ich bin getaktet, immer im Fokus und muss ständig performen, liken, chatten, sehen, gesehen werden... Dies wirkt sich wiederum auf meinen analogen Körper aus: ich bin in Alpträumen oder Schlaflosigkeit gefangen, die Nacht ist zu kurz (Szene zu Beginn); ich bin gejagt, ich jage und hetze um die Wette bis zur Erschöpfung (Digitaler Tagesablauf II). Der analoge und der digitale Raum verschmelzen.

Digitaler Tagesablauf I
Digitaler Tagesablauf II

Raumfunktionen des Video-Einsatzes

Ausgehend vom leeren Raum, einem leeren Zeit- und Körperkonzept war am Anfang der Probenarbeit klar: Da der Bildschirm ein Symbol für den Grenzübergang und/oder Türöffner zwischen den analogen und digitalen Welten ist, liegt die Fokussierung auf das theatrale Mittel des Videos nahe. Der Wahlpflichtkurs Gestalten des 9. Jahrgangs erforschte Video-Einsatzmöglichkeiten (Live-Kamera, Handyfilme), angeregt von den Übungen auf den Karteikarten der Zeitschrift „Schultheater" ( 8/2012).

Letztendlich wurde deutlich, dass der Videoeinsatz mindestens drei Funktionen erfüllen kann:

Die Live-Kamera erweitert, vergrößert und vervielfältigt den Raum. Durch Close-Aufnahmen entsteht eine intensive Nähe. Besonders deutlich wird die Vervielfältigung des Raums auch in der Szene, in der die Kamera zentral auf der Rampe liegt und die Operafolie filmt, denn so entsteht ein Bild vom Bild vom Bild...bis in die Unendlichkeit. Dieses Phänomen des „unendlichen Spiegels" wird im Download „Unendlicher Spiegel" erklärt.

Mithilfe von Videoprojektionen von oben zentral auf die weiße Spielfläche kann der leere weiße Raum auf vielfältige Art und Weise zum Gegenspieler werden. So bekommt der Raum beispielsweise durch einen Strudel, Tornado etc. eine bedrohliche Tiefe, die die Spieler*innen in die Mitte, bzw. nach unten ziehen will. Die Spieler*innen wiederum versuchen verzweifelt, sich am Abgrund (Bühnenrand) festzuhalten (Szene „Upload-Filter").

Arbeitsergebnis „Strudel", Video-Einsatz WPU 9 Gestalten

Video-Projektionen auf die weißen Kostüme lassen den analogen mit dem digitalen Körper verschmelzen, der analoge Körper löst sich in der visuell-digitalen Welt auf. Ästhetisch besonders reizvoll erschienen dabei Kamerafahrten durch dreidimensionale Fantasie-Landschaften, die ihre Gestalt verändern, da sie den Körper in höchste Höhen aufsteigen und in tiefste Tiefen fallen lassen.

Digitales Raumerlebnis

Alles Theater ist Problemlösen

Alles Leben ist Problemlösen. Theater ist Problemlösen. Wenn man diese Sätze in ihrer Konstruktivität ernst nimmt, ist das Hindernis, die Hürde unbedingt im Inszenierungsprozess notwendig, so dass es zu einer positiven Krise kommen kann. Wir hatten einige Krisen, die letztendlich konstruktiv für den Inszenierungsprozess waren. Herausgegriffen seien zwei.

Krise 1

Denkmalgeschützte Guckkastenbühne von 1944

Fünf Wochen vor der Premiere stellte sich heraus, dass wir die von uns eingeplante Turnhalle nicht nutzen können und in der denkmalgeschützten Aula inszenieren müssen. Nach anfänglichem Schock startete der WPU Gestalten des 9. Jahrgangs Raumrecherchen: Wann wurde die Aula gebaut? Wofür wurde sie benutzt? Welche Atmosphäre, Stimmung verbreitet sie? Wie sind die Raummaße, Guckkastenbühenmaße? Wie riecht die Aula? Die Schüler*innen führten Interviews, maßen aus, skizzierten, fotografierten.

Raum als Versuchslabor

Bis schließlich die Idee im Raum stand, die vorderen Bankreihen abzuschrauben und die Spielfläche 8 x 8 vor die Bühne zu legen. Die Begehung des 1. Rangs führte auf einmal zu einem völlig neuen Raumkonzept: Wir wollten ein „Aufsicht"-Stück zeigen, die Zuschauenden sollten gleichsam von oben auf ein Versuchslabor, eine Arenabühne (mit drei Zuschauer*innenseiten und quadratischen Spielboden) schauen. Das veränderte das gesamte Körperspiel. Fortan musste nach oben gespielt werden. Mikrophone wurden eingesetzt, um die Stimmen in den weiten Raum tragen zu können, der dunkel, hölzern, „verstaubt", aufgrund von bunten Fenstern und kirchenbankähnlichem Mobiliar etwas sakral wirkt. Der WPU Technik des 9. Jahrgangs half spontan an zwei Nachmittagen, die Bänke abzuschrauben. Der weiße Boden und die Lichtgestalten setzten einen digitalen Kontrast zu dem denkmalgeschützten Raum, der seit 1944 schon viel erlebt hat. Die Guckkastenbühne wurde nicht bespielt, sondern als Erhöhung der Opera-Folie genutzt, was eine Verbesserung gegenüber der Installation auf der Ebene des Spielbodens bedeutete.

Spürbare Leiblichkeit

Zudem entstand eine neue weiße Projektionsfläche mit interessanten Schattenwürfen, da wir den hölzernen Bühnenrand mit weißen Platten abdecken wollten. Letztendlich führte der Raumwechsel dazu, dass wir zwei unterschiedliche Rezeptionserfahrungen anbieten konnten. Die Zuschauenden im 1. Rang sahen ein „Stück von oben", die Zuschauerreihe direkt am Spielboden im Parkett konnte visuell nicht alles erfassen, weil die Aufsicht fehlte. Dafür war hier die direkte Körperlichkeit der Spieler*innen spürbar, da wir am Ende ein Stück eingeprobt hatten, dass die Spieler*innen immer wieder an ihre körperlichen Grenzen trieb.

Beleuchtungsplan von Torben und Moritz Schwarz
Atemlos durch die Nacht

So fügte sich diese postmoderne Rezeptionserfahrung letztendlich zu unserem Thema: Einheitliche Erfahrungen in der analogen und auch in der digitalen Welt sind selten (vgl. Szene „Atemlos" (Karaoke an Opera), Choreographie in Rautenformation, eine Spielerin versucht die anderen aus ihren eigenen, kleinen, isolierten Welten herauszuziehen (Text-Improvisation zu gemeinsamen Filmen, (Kinder-)Spielen etc.).

Projektion auf die Opernfolie: Atemlos

Krise 2

Die Zuverlässigkeit, Verantwortungsübernahme der Spieler*innen gestaltete sich wie folgt: 16 Leute waren beim Kick-Off-Wochenende, davon drei Abgänge. Zwei Leute stießen nach dem Kick-Off zu uns und blieben bis zur ersten Aufführung im April. So sind wir ab November bis zur Premiere 15 Spieler*innen. An der Wiederaufnahmeprobe für das SDL (1 Probewochenende, 3 Probennachmittage) nehmen sechs Spieler*innen nicht teil. Ein Springer wird gefunden und findet schnell in die Gruppe, sodass 10 Spieler*innen auf dem SDL 2019 in Halle spielen.

Die Reduktion der Spieler*innen um ein Drittel der ursprünglichen Performer*innen stellt die Inszenierung vor eine Herausforderung: Es gilt, die Energie, Körperlichkeit und Raumeinnahme der fehlenden Darsteller*innen aufzufangen. Kann die Inszenierung ihre Wucht und Dynamik trotz deutlich dezimierter Spieler*innenanzahl aufrecht erhalten? Die Theaterform des Chors erspürt ihre Grenzen.

Im Laufe der Wiederaufnahmeprobe wir der Textanteil, die Funktionen des Impulsgebens der fehlenden Spieler*innen verteilt. Raum- und Bewegungslücken müssen geschlossen bzw. ausgefüllt werden. Die Idee, die quadratische Spielfläche zu verkleinern, wird verworfen und auf die Kraft der Darstellung gebaut. Hier bewahrheitete sich eine nahezu profane Binsenweisheit der theatralen Arbeit mit chorischen Elementen: Der Chor, das Ensemble kann die Energie auffangen und gemeinsam freisetzten, der Schutz der Gruppe, die Dynamik der Gruppe lässt den Einzelnen, die Einzelne wachsen, sodass er im wahrsten Sinne des Wortes „über sich hinauswächst". Kaum ein Moment im pädagogisch-didaktischen Handeln verdeutlich in so kurzer Zeit derartig sichtbare Wirksamkeit wie der Theaterunterricht, der Probeprozess an einem gemeinsamen Projekt. Tatsächlich konnten wir feststellen, dass ein verlassener Raum, eine Lücke im Bühnenraum Platz schafft für etwas anderes, für jemand anderen. Raum für ironische Brüche entsteht.

Stärke der Gruppe mit ironischem Bruch
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